Tribute 2004: Matteo Garrone

Im Zwischenland.
Über den italienischen Regisseur Matteo Garrone

von Markus Vorauer

Zwei Konstanten kennzeichnen das filmische Werk Matteo Garrones, die eine strukturell, die andere inhaltlich: Da ist zum einen die spezifische Raumpräsentation, die Garrones Arbeiten so unverwechselbar macht. Zum anderen das wiederkehrende Motiv des Außenseiters, der versucht, einer zu eng gewordenen Welt zu entfliehen. Wobei diese Anstrengung nie heldenhaft wirkt, sondern eher einer existentiellen Verzweiflung entspringt.

Garrones Karriere scheint bereits in der Familie begründet: Mutter, Stiefvater und Cousin waren fotografisch tätig. Und so begann auch Garrone als Kameraassistent und lässt es sich bis heute nicht nehmen, seine Filme selbst zu fotografieren. Sein Debüt drehte er 1996: SILHOUETTE handelt von drei nigerianischen Prostituierten, die an der Peripherie Roms auf Kunden warten. Auf semidokumentarische Weise führt uns dieser Kurzfilm in eine Randwelt, ohne jemals eine soziologische Analyse anzuvisieren oder dem Hang zur mythischen Verklärung zu erliegen, wie man es von Pasolini kennt, mit dessen Frühwerk Garrone durch die eigenwillige Repräsentation marginalisierter Orte verbunden ist.

1997 montiert Garrone dieses Debüt mit zwei weiteren Kurzfilmen zu seinem ersten Langfilm mit dem bezeichnenden Titel TERRA DI MEZZO - Zwischenland/ Niemandsland. In der zweiten Episode EUGLEN E GERTIAN, die zwei Albaner bei ihrer Schwarzarbeit begleitet, finden wir uns wieder am Straßenrand, wo römische Bürger ausländische Arbeitskräfte aufsammeln. Und auch in SELF SERVICE, der dritten Episode, die einen ägyptischen Immigranten bei seinem Nachtjob an einer Tankstelle beobachtet, sind die eigentlichen Protagonisten weniger die Fremden, denen Garrone, wenn sie in ihrer Muttersprache miteinander kommunizieren, konsequenterweise die Untertitel verweigert, als die italienischen Kunden, die durch diesen Kunstgriff scheinbar zu Fremden im eigenen Land werden. 

OSPITI (1998), Garrones zweiter Langfilm, erzählt die Geschichte der beiden jungen Albaner aus TERRA DI MEZZO weiter. Im hochsommerlichen Rom versuchen sie sich mit Gelegenheitsarbeiten durchzuschlagen. Bei einem jungen Fotografen, der wie ein Fremdkörper im wohlhabenden Stadtviertel Parioli wirkt, finden sie Unterkunft. Dort wohnt auch Salvatore, ein Hirte aus Sardinien, ebenfalls ein Fremder in der Stadt, dessen verrückte Frau auf einer ihrer Irrfahrten durch Rom verschwindet. OSPITI verweist mit Nachdruck auf die (physische wie metaphorische) Obdachlosigkeit des Individuums in der modernen Großstadt. Die Figuren bewegen sich durch eine Welt, die nur noch Passagen kennt, aber keine Heimat, sie verfolgen - anders als der klassische Kinoheld - keine Ziele mehr, streifen herum, sind Nomaden unter Nomaden.

Im nachfolgenden Drama ESTATE ROMANA (2000) lässt Garrone, während im Hintergrund die Vorbereitungen für das Stadtgründungsfest laufen, wiederum verlorene Charaktere aufeinanderprallen. Dieser Film markiert einen Übergang im Oeuvre Garrones, indem hier der dokumentarische, skizzenhafte Duktus allmählich einem narrativen Diskurs mit größerer Konzentration auf die Figuren weicht, während die Orte zugleich immer surrealer wirken.

Auch L‘IMBALSAMATORE (2002) erzählt vom Zusammentreffen dreier Außenseiter: des Kleinwüchsigen Peppino, der als Einbalsamierer arbeitet und dabei in die Machenschaften der Camorra verstrickt wird, des attraktiven Valerio, der seinen Job als Kellner aufgibt, um bei Peppino zu arbeiten, und Deborahs, die ihren Job verliert und sich in Valerio verliebt, was eine komplizierte Dreieckskonstellation zur Folge hat. Obwohl die Protagonisten dieses Films (mit Booten, Gokarts, Autos) ständig in Bewegung sind, wirken sie wie Gefangene des Raums. Die Innenräume werden immer dunkler, nach außen gerichtete Bedürfnisse weichen einer zentripetalen, inwendigen Kraft, die die Figuren wie einbalsamiert wirken lässt.

Die Settings sind seelenlose, beliebige Orte, egal ob es sich um die menschenleeren Strände des Villaggio Coppola in Salerno handelt oder um die Nebellandschaften der Poebene bei Cremona, wo der Film endet.

Mit Ernesto Mahieux, der den Kleinwüchsigen Peppino spielt, betritt eine neue Figur das filmische Universum Garrones, eine undurchsichtige, ambivalente, obsessive Erscheinung wie aus einem Film von David Lynch, mit dessen BLUE VELVET L‘IMBALSAMATORE viel verbindet: die dekadente Atmosphäre einer Welt zwischen bürgerlichem Ambiente und kriminellem Untergrundmilieu, die Vorwärtstravellings der Kamera ins Schwarze, das beunruhigende Ende. Wer ist die Gestalt am Flussufer, die in der nebligen Totalen verschwindet?

Die sommerlich-hellen Farben aus dem Frühwerk sind nun einem herbstlich kalten Ton gewichen, der Soundtrack der Gruppe Banda Osiris, die alle Filme Garrones begleitet, klingt auch nicht mehr wie Straßenmusik mit Balkan-Einflüssen, sondern wird eher von Cool-Jazz- Rhythmen dominiert.

All diese Tendenzen laufen in Garrones letztem Film PRIMO AMORE (2004) zusammen, in dem ein Goldschmied aus Vicenza seine krankhaften Obsessionen zu einem blutigen Ende bringt. Vittorio möchte den Körper einer jungen Frau, die er für zu dick hält, nach seinen Vorstellungen modellieren. In einem abgelegenen Waldhaus zwingt er sie, abzumagern. Die Leitmotive von L‘IMBALSAMATORE, das besitzergreifende Begehren, das komplexe Verhältnis Täter/Opfer, erfahren in diesem Film, der an William Wylers Meisterwerk THE COLLECTOR erinnert, noch einmal eine radikale Intensivierung. Garrone ist nun endgültig beim abstrakten Film angelangt.