Tribute 2015: Sergei Loznitsa

Biografie

Der preisgekrönte ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa, 1964 in Weißrussland geboren und in Kiew aufgewachsen, studierte angewandte Mathematik und arbeitete als Wissenschaftler im Bereich Kybernetik und Künstliche Intelligenz sowie als JapanischÜbersetzer. Von 1991 bis 1997 studierte er Produktion und Regie an der renommierten staatlichen russischen Filmhochschule VGIK in Moskau. Bereits seine frühen Werke reüssierten auf international tonangebenden Filmfestivals. Am Beginn seiner 1996 gestarteten Karriere stehen zahlreiche dokumentarisch-essayistische Arbeiten in Schwarz-Weiß sowie zwei Found-Footage- Langdokumentarfilme. 2010 präsentierte Loznitsa seinen ersten abendfüllenden Spielfilm Schastye Moe im offiziellen Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele von Cannes. Sein zweiter Spielfilm V Tumane wurde ebendort mit dem FIPRESCI-Preis ausgezeichnet. Maidan gilt seit seiner Premiere bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes als maßgebliches Zeitdokument der politischen Umwälzungen in der Ukraine. Als österreichische Erstaufführung zeigt CROSSING EUROPE Loznitsas neueste Arbeit, The Old Jewish Cemetery.


Essay

Ausgrabungsarbeiten

(Bert Rebhandl, Filmkritiker DE/AT)

Ein kleiner Junge und ein Mädchen spielen auf einer Wiese in einem Park. Es ist hell und freundlich, die Bilder sind schwarz-weiß, die Schatten liegen zart auf dem Gras, Vögel zwitschern in den Bäumen. Es deutet alles auf einen idealen Sommertag in Riga hin, nichts müsste die gute Laune trüben. Und doch hat es mit dieser Erholungslandschaft eine Bewandtnis, die nicht unterschlagen werden kann und die sich in Sergei Loznitsas halbstündigem Dokumentarfilm The Old Jewish Cemetery allmählich erschließt. Der Park ist zugleich ein jüdischer Friedhof, auf dem die Gemeinden von Riga seit 1725 ihre Toten begraben haben. Nach dem Einmarsch der Deutschen im Zweiten Weltkrieg wurde der Friedhof zu einem Massengrab, im kommunistischen Regime wurden die Grabsteine als Baumaterial verwendet, nach 1989 wurde eine städtische Erholungslandschaft daraus, die Sergei Loznitsa in seinem Film zeigt. Bei genauem Hinsehen sind immer noch Spuren der einstigen Verwüstungen zu erkennen, und so haben wir es nun mit einem Beispiel für die niemals „unschuldigen“ historischen Landschaften zu tun, mit denen Loznitsa sich in seinem Werk beschäftigt.  

Durch seine Geburt in Weißrussland, seine Jugendjahre in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, sein Filmstudium in Moskau und später durch dokumentarische Arbeiten in Sankt Petersburg (vor der Übersiedlung nach Berlin im Jahr 2000) ist er auch persönlich mit diesen drei Nachfolgestaaten der Sowjetunion vertraut. Er bezieht in seinen Arbeiten aber auch das Baltikum mit ein, und wenn man nach einem gemeinsamen Nenner für sein Werk suchen würde, dann bietet sich Timothy Snyders Begriff von den „Bloodlands“ an, jene Teile von Osteuropa, die im 20. Jahrhundert besonders intensiv sowohl unter faschistischen wie auch unter sozialistischen Verbrechen zu leiden hatten.

Mit seinem bisher jüngsten Spielfilm V Tumane macht er Weißrussland jedenfalls (auf Grundlage von Erzählungen von Wassil Bykau, einem der bedeutendsten Autoren dieses Landes) zu einem „Blutland“, in dem die einfachen Leute fast schon hoffnungslos zwischen den Fronten zu überleben versuchen. Die Nazi-Besatzer, die Partisanen, ein Mann, der für die Eisenbahn arbeitet – das alles nimmt Loznitsa hier in den Blick und findet damit einen Zugang zu einer Geschichte „von unten“, die das Schicksal des Fußvolks nicht unterschlägt.

Wenn es eine Gemeinsamkeit zwischen dem konzeptuellen Dokumentarfilm The Old Jewish Cemetery und dem Spielfilm V Tumane gibt, dann müsste man zuerst von der außergewöhnlichen Fotografie sprechen. Loznitsa ist ein Ästhet par excellence, er sucht nach einer tiefenscharfen Bildsprache, die Elemente des Panoramas mit allegorischen Strategien verbindet, in denen das konkrete Bild auf größere Zusammenhänge verweist. V Tumane beginnt mit einer meisterhaften Plansequenz von der Hinrichtung einiger Partisanen, die in ihrer Dichte an Details und in ihrer Verknüpfung verschiedener alltäglicher und metaphysischer Aspekte an Tarkowski erinnert, wechselt dann in ein Dreipersonendrama in freier Natur und endet mit einer tragisch-absurden Note.

Durch die Ereignisse in der Ukraine bekam Europa im Jahr 2014 wieder vor Augen geführt, dass die Geschichte des Zweiten Weltkriegs keineswegs vergangen ist, sondern nach wie vor als Interpretationshintergrund für gegenwärtige Ereignisse dient. Insofern passt dieser historische Film sehr gut in das Gesamtwerk von Loznitsa, der lange Zeit vor allem dokumentarisch gearbeitet und 2010 mit Schastye Moe seinen ersten Spielfilm vorgelegt hat. Auch in dieser Geschichte um einen Lkw-Fahrer in der russischen Provinz taucht der Weltkrieg auf; ein alter Mann erinnert sich an seine Rückkehr im Jahr 1946, eine ernüchternde Erfahrung, die gar nicht zur offiziellen Helden-Mythologie vom großen vaterländischen Krieg passt. Loznitsa zeichnet in Schastye Moe ein deprimierendes Bild vom Leben im Hinterland einer einstigen historischen Großmacht. Hier wie auch in V Tumane bildet die in beiden Fällen von dem rumänischen Kameramann Oleg Mutu aufgenommene erhabene und indifferente Natur einen markanten Gegensatz zu der Not und der Gewalt unter den Menschen. Sie bildet auch den Hintergrund für eine Reihe seiner Dokumentarfilme, in denen er Menschen in exponierten Gegenden zeigt, wie sie das Leben meistern: Zhizn, osen über ein Dorf in der Nähe von Smolensk, Artel über Fischer am Weißen Meer, Severny svet über eine Kommune in Karelien. Auch die beiden Filme über psychiatrische Anstalten in Russland (Poselenije und Pismo) lassen sich in diesem Zusammenhang sehen, und in Portret bekam das durchgehende fotografische Interesse eine reflexive Facette, denn hier werden die Übergänge zwischen Standfotografie und Bewegtbild bewusst verwischt. Die spezifische Conditio humana, die Loznitsa mit einer Vielzahl von künstlerischen Strategien in den Blick zu bekommen versucht, hat eine entscheidende Voraussetzung in der Erfahrung des real existierenden Sozialismus. Die frühen Filme handeln vielfach auf die eine oder andere Weise davon. Schon das Debüt Segodnya my postroim dom kann als eine Allegorie auf den größeren Sozialismus gesehen werden: Bilder von der Errichtung eines Wohngebäudes durch eine Gruppe mit dem Namen Tekton, kollektives Arbeiten an einem Projekt, das allen dienen soll. Es sind Bilder, die ursprünglich einer propagandistischen Absicht dienen sollten, die bei Loznitsa aber wie aus dem ideologischen Zusammenhang befreit wirken. Mit seiner pointierten Nachsynchronisation und dem Soundtrack aus baltischen Balladen und Polkas lässt er den Sozialismus auf eine paradoxe Weise lebendig werden, nicht länger als Hypothek zweier oder dreier Generationen, die deswegen nie in der Gegenwart ankommen werden, sondern als Möglichkeit, vielleicht doch auf eine andere Weise mit diesem Erbe umgehen zu können, als es der alles vereinheitlichende Kapitalismus und die neoimperiale Politik Russlands unter Putin vorsehen.

Loznitsa hat mehrfach mit Archivmaterial aus der Sowjetunion gearbeitet. In Predstavlenye sind am deutlichsten die Hoffnungen erkennbar, die sich einmal auf das Projekt des kommunistischen Aufbaus richteten: Propagandamaterial aus der Zeit der Entstalinisierung – darunter auch viele Theateraufzeichnungen – zeigen, wie sich eine Gesellschaft hier gleichsam auf dem Fortschrittsvektor nach vorn streckt, sich selbst zu übertreffen versucht und dabei doch die Seele nicht zu verlieren trachtet. Die Seele, das ist das Pathos, das der russischen Kultur innezuwohnen scheint, das Gefühl, das in den Tänzen und Gesängen erkennbar wird, in denen die harte Arbeit an den Hochöfen aufgewogen wird. Predstavlenye lässt die Aufholjagd der Sowjetunion im Wettbewerb der Systeme als spielerisch erscheinen, und gerade daraus ergibt sich die schmerzhafte Ironie dieses Films, denn erstens war das natürlich eine Illusion, und zweitens war die ganze Anstrengung vergeblich, jedenfalls unter dem Anspruch, dass sie eine bessere Gesellschaft hervorbringen sollte.

Mit Blokada beschäftigte Loznitsa sich mit einer früheren Schlüsselszene des Kampfes der Systeme. Er montiert Material aus der Zeit, in der Leningrad durch die deutsche Armee eingeschlossen war. Zu sehen sind Bilder einer wehrhaften Stadt, am Ende gibt es ein Feuerwerk. Für die entsetzliche Hungersnot während der Blockade gibt es kaum Bilder, sieht man von einer längeren Sequenz ab, in der zu sehen ist, wie Leichen entsorgt werden – auf Schlitten werden sie zur Sammelstelle gezogen, schließlich sehen wir einem Toten direkt ins Gesicht. Leningrad ist ein Massengrab, und doch hat die Stadt überlebt.

Die Menschen, die in diesen letzten Bildern von Blokada zu sehen sind, sind den Menschen in dem Film Peyzazh, in dem Loznitsa Aufnahmen an Bushaltestellen in Russland machte, zumindest dem Augenschein nach verwandt. Die Kamera schwenkt in einem fort nach rechts, vollzieht Kreisbewegungen, auf denen sie wie zufällig eine Menge einfängt: Gesichter, Gebäude, Straßen. Überwiegend sind es Gesichter, viele kaum zu sehen unter den tief in die Stirn gezogenen Kopfbedeckungen, die gegen den „Winter, diesen Hurensohn“ helfen sollen. Wie in allen Filmen von Loznitsa ist auch hier die Tonspur von elementarer Bedeutung: Zu hören sind Gesprächsfetzen aus diesen Wartesituationen, man bekommt Einblicke in familiäre Situationen, ein Mann erklärt seiner Frau, dass er nicht länger nett zu ihr sein wird, sondern ihr zeigen wird, wer der Herr im Haus ist. Andeutungen von politischen Vorgängen und Korruption treffen auf allgemeine Resignation, die jungen Männer haben rote Wangen vom Bier und von der Kälte. Es ist das Bild eines Russland, wie man es zu kennen glaubt, tief in Verhältnissen feststeckend, die sich seit Jahrzehnten, ja seit noch längerer Zeit nicht geändert zu haben scheinen. Die humpelnde Figur, die in der letzten Szene aus dem Bild geht, könnte ohne das Fahrrad auch aus dem 19. Jahrhundert stammen, ein Leibeigener, der mühselig durch das Leben geht.

Die Gefahr einer Ästhetisierung von Elend wird hier durch das Verhältnis von Bild und Ton gebannt: Das Bild ist distanziert und hat eine künstlerische Note, mit der Tonspur aber wird Loznitsa zu jemandem, der auf die „Flüsterer“ (so der Titel eines berühmten Buches von Orlando Figes über das private Leben unter Stalin) horcht und Zeugnis von ihren kaum jemals laut geäußerten Beschwernissen ablegt.

Generell haben die dokumentarischen Arbeiten von Loznitsa etwas Fragiles, sie zeigen sich verletzlich; eine seiner jüngsten Arbeiten, Pismo, in der er sich neuerlich mit Psychiatriepatienten befasst, erinnert in ihrer fotografischen Qualität an Filme von Alexander Sokurow, den man zugespitzt als den Maler unter den russischen Filmemachern bezeichnen könnte. Loznitsa changiert häufig zwischen tiefenscharfer Detailpräzision und verwischter Surrealität und vermittelt dabei den Eindruck, dass es zwei dokumentarische Realismen geben könnte: einen von außen, der dem herkömmlichen Blick auf die Menschen und Dinge entspricht, und einen, mit dem der Filmkünstler sich ästhetisch in die mentale Situation der Beobachteten hineinzudenken versucht. Besonders deutlich wird dieses Verfahren in Polustanok, in dem Menschen zu sehen sind, die auf Bahnhöfen warten und dabei eingeschlafen sind. Wir sehen sie von außen, sind aber zugleich auf eine eigentümliche Weise in die Bewusstlosigkeit ihrer Haltung einbezogen. Das Ungefähre der Bilder und die Bahnhofsgeräusche aus dem Off ergeben insgesamt eine starke Metapher für eine Welt des Übergangs, wie sie im Jahr 2000 von Sankt Petersburg aus zweifellos auch subjektiv empfunden wurde.

2013 begann Loznitsa auf dem Maidan in Kiew die Proteste gegen das Janukowitsch-Regime zu filmen. Es entstand ein distanzierter Dokumentarfilm über einen Volksaufstand, an dem Loznitsa zuerst einmal die Vielfalt der Kundgebungen und die Logistik interessierten. Er zeigt, wie während der Wochen der Proteste viele einfache Leute auf die Bühne kamen und mit ihren eigenen Worten für die Veränderungen eintraten, die auf dem Maidan gefordert wurden. Eine Staatstheorie von unten wird hier erkennbar, zwischendurch immer wieder der Ruf „Weg mit dem Pack!“, und schließlich versinkt der ganze Film in den dunklen Schwaden der Gefechte rund um Maidan, Kreshtshtyak- und Institutskaya-Straße. Viele Verfechter des ukrainischen Aufbruchs empfanden Maidan als distanziert, aber Loznitsa beharrte auch hier auf einer eigenen künstlerischen Wahrheit und traf dabei doch sehr viel von der dramatischen Stimmung dieser Tage, ohne sich dabei auf irgendwelche Authentizitätsgesten des Reportagefernsehens oder des Smartphone-Dokumentarismus einzulassen. Herausragend ist der Film, weil er tatsächlich noch im Moment der Auseinandersetzung eine historische Position einnimmt: Er zeigt den Maidan als Ort eines „nation building“, und genau das ist es, wodurch die ukrainische Erfahrung so anstößig für das Regime des großen Nachbarn Russland wurde.

Bei Loznitsa finden sich viele retardierende Momente, sein Werk ist geprägt von einer Ambivalenz gegenüber der „Secondhand-Zeit“ (Swetlana Alexejewitsch), von der die Erfahrungen vieler postsowjetischer Menschen geprägt sind – einer Zeit, die eigentlich schon aufgebraucht war, die aber noch weitergetragen werden muss, weil die neue Zeit nicht passt. Erst in letzter Zeit hat Loznitsa sich gelegentlich auf Projekte eingelassen, die nicht mit seiner osteuropäischen Herkunft zu tun haben. Das hat mit seinem wachsenden Erfolg in der internationalen Festivallandschaft zu tun, der ihn auch in Kontakt mit allen möglichen Projekten bringt. Zuletzt hat eine deutsche Filmförderung Geld für ein Projekt mit dem Titel Austerlitz bewilligt, die Rede ist von einer Meditation über ein Konzentrationslager und die Kultur der Erinnerung. Zu dieser Kultur hat Loznitsa einige entscheidende Werke beigetragen und dabei bewiesen, dass das filmische Medium für die Darstellung historischer Vielschichtigkeit exzellent geeignet ist.