Tribute 2009: Ursula Meier & Lionel Baier

Biographie

Ursula Meier

1971 in Besançon (Frankreich) als Kind eines französisch-schweizerischen Elternpaares geboren. Studierte am Institut des Arts de Diffusion, Belgien. Ihr dortiger Abschlussfilm, Le s onge d‘Is aac, wurde 1994 für einen Kurzfilm-Oscar nominiert. Ihr aktueller Spielfilm Home feierte in Cannes Premiere und erhielt 2009 den Schweizer Filmpreis Quartz ind der Kategorie „Bester Spielfilm“. Ursula Meier lebt und arbeitet derzeit in Brüssel.


 

Lionel Baier

geboren 1975, dreht seit den Neunziger Jahren Filme und leitet seit 2002 die Filmabteilung der Kunsthochschule ECAL in Lausanne. Gemeinsam mit den befreundeten Regiekollegen Ursula Meier, die in seinen Filmen immer wieder kleinere Rollen spielt, und Jean-Stéphane Bron (Mais im Budeshuus ) gilt er als Proponent einer jungen welschschweizer Filmszene. Lionel Baier lebt in Paris.


 

Essay

Filmwunder hinter dem Röstigraben1

von Maya McKechneay

Wenn man an die Schweiz denkt, denkt man – zumindest als selbst Deutschsprachige – für gewöhnlich zuerst an Zürich, Basel, an Sankt Gallen – kurz an jenen flächenmäßig größten Teil der Schweiz, in dem ebenfalls Deutsch gesprochen wird. Rund ein Viertel der Schweizer hat jedoch Französisch als Muttersprache – dieser Teil der Bevölkerung lebt in der Westschweiz, der Suisse Romande, Romandie, auch Welschschweiz genannt, in den Kantonen Genf, Waadt, Neuenburg und Jura. Im Kanton Tessin und vier Südtälern des Kantons Graubünden wird Italienisch gesprochen. Nicht mehr besonders weit verbreitet, aber immer noch anerkannt als vierte Staatssprache ist Rätoromanisch.

Denkt man nun die Schweiz als Filmland, sollte man seine Aufmerksamkeit derzeit vielleicht sogar zu allererst auf die Romandie lenken. Denn dort gibt es eine junge Filmszene, die mit ihren eigenwilligen Spiel- und Dokumentarfilmen auf sich aufmerksam macht. „Die Welschen kommen“, titelte im Januar 2009 die Neue Züricher Zeitung2 und freute sich, dass „in der Westschweiz der Autorenfilm derzeit eine kleine Blüte erlebt“. Insbesondere bezieht sich der Artikel auf Lionel Baier, der „mit Freunden wie Ursula Meier (Home) und Jean-Stéphane Bron (Mais im Bundeshuus ) oder mit Vincent Pluss (Du Bruit dans la Tête) eine Galionsfigur der jungen welschen Filmszene“ darstellt.

Ganz so einfach ist die regionale Einordnung des kleinen Schweizer Filmwunders natürlich auch wieder nicht. Denn sowohl Lionel Baier als auch Ursula Meier haben ihren Lebensmittelpunkt schon seit Jahren nicht mehr in der Schweiz. Zu klein ist das Land, als dass man hier größere Filmprojekte finanzieren könnte. Ein bisschen ist es wie mit der Abwanderung österreichischer Filmemacher nach Deutschland (Hans Weingartner) oder nach Frankreich (Michael Haneke) – andere Länder haben einfach größere Märkte.

„In der Schweiz ist es absolut üblich, Filme, zumal Spielfilme, als Koproduktion mit anderen Ländern zu produzieren“, erklärt ein gut gelaunter Lionel Baier am Rande des Filmfestivals Rotterdam3, wo sein aktueller Film Un autre Homme Premiere feiert. „Un autre Homme ist da ein Ausnahmefall. Er ist mit wirklich kleinem Budget gedreht. Wenn man alle Fördermöglichkeiten in der Schweiz ausschöpft, kommt man auf maximal zwei Millionen Schweizer Franken (rund 1,3 Mio Euro). Meine vorhergehenden Filme Comme des Voleurs und Garçon Stupide waren beide Koproduktionen. Das Gleiche gilt für die Spielfilme von Ursula. Das hat natürlich noch andere Gründe als die Finanzierung der Produktion. Man will vielleicht Techniker oder Schauspieler aus Frankreich einsetzen und dem Film damit auch bessere Chancen auf einen Kinostart in Frankreich geben. Frankreich ist natürlich unser größter Markt“, sagt Baier und fügt an, dass er für diesen von Paris aus natürlich die bessere Startposition habe.

Seit Jahren produziert Lionel Baier seine Filme mit Robert Boner, einem weiteren Welschschweizer, der ebenfalls in Paris lebt, als Produzent jedoch neben Frankreich weiterhin in der Schweiz tätig ist (Ciné Manufacture France und Saga Production). Boner produzierte auch einen der ersten Langfilme von Ursula Meier, die Dokumentation Pas les Flics , pas les Noirs , pas les Blancs , die 2002 als Auftragsarbeit für das Schweizer Fernsehen entstand.

Bei dieser Gelegenheit lernten sich Baier und Meier kennen: „Wir haben damals gleichzeitig gedreht, und Ursula und ich haben uns entschlossen, aus unseren Fernsehbeiträgen Kinofilme zu machen. Autour d e Pinget, Ursulas Film über (den Schweizer Romanautor, Anm.) Robert Pinget, und ihre Kurzfilme Tous à table und Le songe du Isaac hatte ich schon gesehen, und wusste: Die Frau ist interessant, die will ich kennenlernen.“

Seither verbindet Baier und Meier (die man beide französisch auf der letzten Silbe betont) eine Freundschaft. Sie würden etwa alle zwei Tage miteinander telefonieren, erzählt Baier: „Wir besprechen unsere Projekte und können uns austauschen, ohne dass wir uns gegenseitig in unserer Kreativität behindern. Das ist umso interessanter, als wir ganz unterschiedliche Filme machen.“

Immer wieder hat er, Lionel Baier, Ursula Meier in kleinen Rollen besetzt, als eine Art kollegiale Signatur: So hat sie in seinem aktuellen Film Un autre Homme einen kurzen Auftritt als Diskutantin in einer Radiorunde von Filmkritikern.

Aber es ist wahr, die Filme von Baier und Meier sind recht unterschiedlich. Ja, was Meier betrifft, so könnte man behaupten, dass sie sich als Filmautorin von Werk zu Werk immer wieder neu erfindet. Ihr erster, 1994 im Rahmen ihrer Ausbildung am belgischen Institut des Arts de Diffusion (IAD) gedrehter 13-Minüter Le Songe d‘Isaac bewegt sich in schwebenden, wispernden Kamerafahrten durch eine Anordnung großbürgerlicher Zimmerfluchten, in denen wehende Vorhänge für einen Wechsel von Licht und Schatten sorgen. Ein wenig fühlt man sich wie bei einem Gang durch die Bildwelt Tarkowskis. Für diesen allerersten Film wurde Meier auf Anhieb für einen Kurzfilmoscar nominiert.

Der folgende, vier Jahre später entstandene Kurzfilm Des Heures sans Sommeil, ist naturalistischer im Tonfall: Nach Jahren der Entfremdung treffen sich Bruder und Schwester im Elternhaus wieder. Der Vater ist gestorben, Erinnerungen steigen auf und sorgen für eine schlaflose Nacht. Interessanterweise sind die nächtlichen Rückblenden aus Perspektive der männlichen Hauptfigur erzählt, die sich in der Liebe des Vaters gegenüber der Schwester zurück gesetzt fühlt. Hier liegt ein Anknüpfungspunkt an die Figurenzeichnung des Lionel Baier: Bei ihm sind umgekehrt oft die weiblichen Hauptfiguren besonders lebensnah und sympathisch gezeichnet.

2003 drehte Ursula Meier in langen Handkameraeinstellungen ihren dritten Kurzfilm, Tous à Table: ein feuchtfröhliches Ensemblespiel mit dokumentarischem Touch, das in einer halben Stunde Echtzeit die Bewegung eines Familienfestes vom alkoholsatten, singenden Gemeinschaftsglück bis zum Zerwürfnis begleitet. Während die Feier selbst in Schwarzweiß gedreht ist, beginnt am Ende plötzlich ein Animationsclip, der das bei Tisch erzählte Rätsel um drei Ameisen in Farben und Formen übersetzt.Zwischendurch drehte Meier das Autorenporträt Autour de Pinget (2000) und die erwähnte Dokumentation Pas les Flics , pas les Noirs , pas les Blancs über das nationalitätenübergreifende Engagement eines Berner Polizisten.

Möglicherweise geschult durch ihre dokumentarischen Erfahrungen, wirkt Meiers erster abendfüllender Spielfilm Des Épaules Solid es wieder wie „eingefangen“: In der Hauptrolle einer jungen Sportlerin, die sich bis zum Limit ihrer Leistungsfähigkeit pusht, besetzte Meier eine Laiendarstellerin, die ebenso trotzig in sich gekehrt wirkt wie die Darsteller der belgischen Dardenne-Brüder – deren Filme hier möglicherweise Inspiration waren.

Wieder ganz anders: Meiers 2008 in Cannes uraufgeführte Groteske Home, eine knallbunte filmische Versuchsanordnung um eine Familie, die neben einer nie zu Ende gebauten Autobahn lebt. Eingangs noch ihrem ganz privaten Anarcho-Glück überlassen, rücken schon bald die Baumaschinen an und bringen das familiäre Ökosystem zum Kippen. Mit einem Minimum an Dialogen überlässt sich Meier in dieser surrealen Fortschrittsparabel ganz der tableauhaften Macht der Bilder (es filmte Claire Denis’ Kamerafrau Agnès Godard). Und die Rechnung geht auf: Home berührt mit seinem wilden Mut zur Bizarrerie auf überraschend sanfte Weise.

Home ist auch der erste Langspielfilm, den Meier auf 35mm drehte. Die Hauptrollen spielen Isabelle Huppert, der regelmäßige Dardenne-Darsteller Olivier Gourmet sowie Adélaïde Leroux, die in Bruno Dumonts Flandres ihr Debut gab. Allein die Szenerie, der Nachbau der Autobahn und das Heer an Statisten müssen Unsummen verschlungen haben. Dementsprechend lange dauerte die Finanzierung.

Lionel Baier schraubte sein Budget dagegen für seinen aktuellen Film, wie oben erwähnt, zurück. Neben dem Filmemachen hat der 34-Jährige mittlerweile auch ein zweites Standbein: Seit 2002 leitet er die Filmabteilung der Kunsthochschule Lausanne und pendelt für diesen Job jede Woche zwischen der Schweiz und Paris: „Ich selbst habe im Unterschied zu Ursula nie eine Filmschule besucht. Insofern war es schon seltsam für mich, als man mir diesen Job anbot, und ich zum ersten Mal eine Filmschule betrat ... mir erst mal überlegen musste, was man dort wohl lernt, wie die Stundenpläne aussehen könnten. Ich habe den Job damals angenommen, weil ich ein unkonventionelles, nichtakademisches Unterrichtskonzept ausprobieren wollte; eine Art Workshop für Filmemacher.“ Baier selbst studierte die französische Literatur des Mittelalters, anschließend Filmgeschichte und Filmkritik. Über die Lektüre von Kritiken näherte er sich auch einer Filmkultur abseits von Hollywood: „Ich bin auf dem Land aufgewachsen, nahe dem Neuenburger See, ganz im Norden der Schweiz.

In dieser Gegend gab es nur ein einziges Kino, das ausschließlich amerikanische Blockbuster spielte. Keine europäischen Filme oder Autorenfilme. Mein erster Zugang zu einem „anderen“ Kino fand also durch die Kritiken statt, die ich in der Zeitung las. Durch diese Lektüre habe ich viel über das Filmemachen gelernt. Manche Kritiker, wie Serge Daney oder Jean-Luis Comolli, sind für mich als Einflüsse mindestens ebenso wichtig wie Regisseure. Manche Regisseure wiederum, die ich bewundere, waren früher Filmkritiker: Truffaut oder Rohmer.“Baiers aktueller Film Un autre Homme spielt im Filmkritikermilieu. François, ein Neuling im Metier, der für eine Provinzzeitung schreibt, beginnt in Lausanne die Pressevorführungen zu besuchen. Dabei lernt er die scharfzüngige und versierte Kritikerin Rosa Rouge kennen, die sich bald ein Spiel daraus macht, den unerfahrenen Kollegen intellektuell und erotisch zu dominieren. Eine Farce, die verschiedene Positionen der Filmkritik verhandelt: den Eklektiker, wie ihn Francois verkörpert, die Intellektuelle, die vom Kino viel versteht, es aber nicht liebt, und den gebildeten Cineasten vom alten Schlag. Letzterer kommt im Film als Person gar nicht vor. Es werden nur immer wieder Texte zitiert, aus einer gewissen Monatszeitschrift namens Travelling, die unschwer als Stand-In für das gute alte Cahiers du Cinéma zu erkennen ist. François schreibt daraus seine Texte ab. Mit dem Travelling-Kritiker, gesteht Baier, sympathisiere er auch am meisten.

Die Filmbewegung, die Lionel Baier vollzog, ist der von Ursula Meier in gewisser Weise entgegengesetzt: Im Gegensatz zu Meiers poetisch-abstraktem Erstlingswerk sind Baiers frühe Arbeiten, wie die Dokumentationen Celui au pasteur (2000) oder Mon père, c’es t un lion (2002) sehr persönlich. In beiden geht es um die Aufarbeitung von Baiers Verhältnis zu seinem Vater, einem protestantischen Pfarrer. Celui au Pasteur bedeutet so viel wie „der vom Pfarrer“, ein Rufname, den Baier in seinem Kindheitsort Waadt trug, und der zeigt, wie dominant die eigene Herkunft war. Nach einem radikalen Bruch konnte sich Baier, der inzwischen auch sein Coming Out gehabt hatte, wieder dem Vater nähern. Celui au Pasteur ist ein filmisches Kräftemessen zwischen Generationen und Haltungen. Aber vor allem auch eine Annäherung, ein Akt der Versöhnung in der Einsicht um Gemeinsames und Verschiedenheit.

Semi-autobiographisch oder, wie Baier selbst es lieber nennt „autofiktional“, sind auch die drei Spielfilme des Regisseurs. In Garçon Stupide führt ein gewisser Lionel, der aus dem Off nur zu hören, aber nicht zu sehen ist, Gespräche mit dem jungen Stricher Loïc. Loïc, der bisher nur offensive Erotik, aber keine Liebe kennt, der nur in den Tag hinein lebt, entdeckt mit Lionels Hilfe allmählich den Kern der eigenen Persönlichkeit.

Loïcs Fels in der Brandung ist Marie, eine etwas ältere Freundin, die sich manchmal um ihn kümmert oder ihn auch bei sich übernachten lässt. Gespielt wird sie von Natacha Koutchoumov, wie bisher alle entscheidenden Frauenrollen in Filmen von Baier. Er sei nicht mit ihr befreundet, sagt Baier, aber Natacha Koutchoumov verkörpere etwas ganz Entscheidendes für ihn ... Man dürfe nicht übersehen, dass viele autobiografische Momente in seinen Drehbüchern gerade in die Frauenfiguren einflössen. Die seien ihm oft viel näher als die Männer.

1 Röstigraben ist ein scherzhafter Ausdruck des schweizerischen politischen Lebens und bezeichnet einerseits den Unterschied in den Mentalitäten von Deutschschweizern und Romands, andererseits den latenten Konflikt zwischen der deutschsprachigen Bevölkerungsmehrheit der Schweiz und der frankophonen Schweiz. Die Rösti war ursprünglich das typische Bauernfrühstück der westlichen Deutschschweiz. Heute ist sie ein schweizerisches Nationalgericht, das beidseits des sogenannten Röstigrabens beliebt ist. (Quelle: Wikipedia)

2 Die Welschen kommen, NZZ, Martin Walder, 18.1.2009 www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/die_welschen_kommen_1.1718232.html

3 Die Zitatausschnitte sind einem Interview entnommen, das die Autorin am 26. und 27. Januar 2009 mit Lionel Baier führte. Die Langversion erscheint in kolik.film Nr. 11.

3 The quotations are excerpted from an interview that the author conducted with Lionel Baier on 26 and 27 January 2009. The full version is published in kolik.film Nr. 11.