Tribute 2007: Marc Recha

Biographie

Marcus Recha

Geboren 1970 in l‘Hospitalet de Llobregat, einem Arbeitervorort von Barcelona. Mit seiner ersten Kamera, einer Super-8, drehte er zwischen 1984 und 1988 vierzehn Kurzfilme. 1988 entstand sein erster Kurzfilm auf 35 mm, EL DARRER INSTANT, der für die Biennal‘89 Jóvenes Creadores Europeos in Barcelona ausgewählt wurde sowie für die Muestra de Cortometrages de Festival des Cines von Alcalá de Henares – wie fast alle seine folgenden Kurzfilme. Mit Hilfe eines Auslandsstipendiums der Kulturabteilung der katalanischen Regierung ging er im Alter von 18 Jahren nach Paris. Dort war er Regieassistent von Marcel Hanoun beim Dreh zu OTAGE (1988).

Recha produzierte nicht nur seine eigenen Kurzfilme, er sicherte auch die Produktion des Films TOUT À LA FRANÇAISE (1990) seines Kodrehbuchautors Joaquim Ojeda. 1992 entstand Rechas erster Langfilm, EL CIELO SUBE, der in Locarno ausgezeichnet wurde. Seine Bekanntheit wuchs mit PAU I EL SEU GERMÀ, den er 2001 am Filmfestival Cannes präsentierte. Sein vierter Film, LES MANS BUIDES, lief dort 2003 in der Sektion „Un Certain Regard“. 

 

Filmography 35mm

DIES D‘AGOST (August Days, 2006); LES MANS BUIDES (Where is Madame Catherine?, 2003); PAU I EL SEU GERMÀ (Pau And His Brother, 2001), SOBRE EL PAS DE DUES PERSONES UNS ANYS MÉS TARD (KF, 2001); L‘ARBRE DE LES CIRERES (The Cherry Tree, 1998); L‘ESCAMPAVIES (KF, 1997);  ÉS TARD (KF, 1993); EL CIELO SUBE (Heaven Rises, 1991); LA MAGLANA (KF, 1991); EL ZELADOR (KF, 1989); EL DARRER INSTANT (KF, 1988)


 

MARC RECHA - Landschaften, Körper und Erinnerungen

von Manuel Yáñez Murillo

Marc Rechas Werk, das bisher zahlreiche Kurzfilme und fünf Langfilme umfasst, versteht sich als kreatives Kontinuum. Als Reise auf der Suche nach Formen der Darstellung eines Dialogs zwischen dem Menschen und seiner natürlichen Umgebung, durchaus nicht ohne Wendungen und Brüche, aber kohärent und immer bestrebt, physische Spuren einzufangen, um die Vergänglichkeit der Gefühle und Emotionen Gestalt annehmen zu lassen. Die Filmkunst des katalanischen Filmemachers, der die Erkundung der Landschaft entschlossen als narratives Instrument einsetzt, ist im Inneren dieser offenen Dialektik zwanghaft getrieben von der Suche nach dem, was sich hinter der sichtbaren Wirklichkeit verbirgt. Gespalten zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren sind seine Filme daher geprägt von geisterhaften Erscheinungen, wandernden Figuren und ziellosen Gestalten. Und auf dieser Reise durch Landschaften, Körper und Erinnerungen taucht auf eindringliche Weise die Figur des Zufalls auf, als Teil des mit dem Realen verbundenen Mysteriums, aber auch als Kraft, die in den Film eingreift und zum Motor der Erzählung wird. Indem er sich der Stille als wichtigste Quelle des Ausdrucks bedient und die Grenzen zwischen Dokumentarfilm und Fiktion verwischt, gibt Recha seiner Filmkunst eine melancholische Note, ein geheimnisvolles Profil, einen Hang zum Ungewissen – die Darlegung seiner Zweifel und Konflikte findet damit eine brillante filmische Umsetzung.

Im Jahr 1970 in L‘Hospitalet, einem Arbeitervorort von Barcelona, geboren, wächst Marc Recha bei seiner Mutter und seinen Geschwistern in einem Umfeld auf, dem es an künstlerischen Anreizen nicht mangelt und das in ihm ein frühes Interesse am Film weckt. Seine Kindheit verbringt er mit seiner Familie in einer Kommune am Land, eine Erfahrung, die Rechas Faszination für ländliche Gegenden ebenso prägen wird wie sein politisches Denken, gefestigt durch ein progressives Bildungsmodell, ein Erbe der Republik vor Franco. So erklärt sich Recha auch libertären, anarchistischen Denkweisen nahe und setzt sich für die Wiedereinführung eines humanistischeren Sozialmodells ein. Diese Ablehnung der zeitgenössischen gesellschaftspolitischen Spielregeln spiegelt sich in Filmen mit Personen wider, die sich auf der Flucht befinden, einige davon entwurzelt, den Traumata und dem Wirrwarr des städtischen Lebens entfliehend.

1987 zieht Recha nach Paris, um dort den verschiedenen Mythen seiner unbändigen Liebe zum Film, die er in der Cinemathek von Barcelona entwickelt hat, auf den Grund zu gehen. So lernt er den Cineasten Marcel Hanoun kennen, mit dem er im Film OTAGE (1987) zusammenarbeitet und der ihm während seines nicht unproblematischen Aufenthalts in Paris hilfreich zur Seite steht. Nach seiner Rückkehr widmet er sich wieder den Kurzfilmen. Der Autodidakt Recha beginnt Super-8-Filme zu drehen, um 1988 zu 35mm-Filmen überzugehen, ein Format, das er für seinen ersten Langfilm, EL CIELO SUBE (Heaven Rises, 1991), wählt. Recha dreht den Film mit jenem Team, das sich zu seiner Zeit als Regisseur von Kurzfilmen gebildet hatte. Und sein langgedienter Cutter und Drehbuchautor, Joaquín Ojeda, ist es auch, der ihm den Text „Oceanografía del tedio“ des katalanischen Schriftstellers Eugeni D‘Ors präsentiert, auf dem der Film basieren sollte.

Experimentell angelegt und auf den Prinzipien der Fiktion beruhend, wird der Film zum Essay über suspensive Formen der Erzählung:die Porträtaufnahme der dreistündigen „Siesta“ des Protagonisten im Liegestuhl im Garten eines Heilbades. Hermetisch und formalistisch, ohne Dialoge, in Schwarzweiß (wobei das Negativ den Eindruck des „primitiven“ Kinos erwecken soll) und in der Allgegenwart einer Off-Stimme, die den Text von D‘Ors wortwörtlich rezitiert, lebt der Film von der aggressiven Spannung zwischen der körperlichen Inaktivität und der geistigen Hyperaktivität des Protagonisten. Eine Dialektik, die sich auf die Figuren zweier Frauen ausdehnt, von denen eine die intellektuelle Schönheit (die Innenwelt), die andere die runde und sinnliche physische Präsenz (die Außenwelt) repräsentiert. Der Film knüpft stilistisch und thematisch an seine Kurzfilme an: Reflexionen über den Lauf der Zeit, Detailaufnahmen, Jump Cuts, die Abstraktion basierend auf der Erfassung des Körperlichen, eine expressionistische klangliche Aufbereitung und die Natur als zusätzliche Person der Handlung. 

1998 beweist Recha mit L‘ARBRE DE LES CIRERES (The Cherry Tree) seine Fähigkeit, sich stilistisch weiterzuentwickeln. Er markiert damit eine klare Wendung hin zu einem Realismus naturalistischer Prägung, mit dem er das Erbe von Meistern wie Rossellini oder Eustache antritt und der ihn unverwechselbar macht. Mit gleich bleibend höchst kontemplativem Blick arbeitet der katalanische Filmemacher an langsamen Tempi und ruhigen Bildern und widmet sich dem schwierigen Unterfangen, den Aufbau seiner Personen einer sorgfältigen Undefiniertheit zu überlassen. Danach kommt PAU I EL SEU GERMÀ (Pau and His Brother, 2001), ein Film, in dem die physische Manifestierung der Abwesenheit die absolute Hauptrolle bei der Suche nach den letzten Lebenszeichen eines jungen Verstorbenen (Selbstmörders) durch dessen Familie übernimmt. In diesem Film zeigt sich die obsessive Fixierung Rechas auf die Gesichter seiner Darsteller und auf die emotionale Unbeständigkeit der Erzählung, einem Element, das ihn mit dem Werk von John Cassavetes verbindet. Gleichzeitig begründet der Regisseur eine Arbeitsweise, die eine Öffnung der Erzählung für Gegebenheiten der realen Welt unterstützen soll. Er filmt chronologisch und hält von den Dreharbeiten alles fern, was dem Naturalismus Abbruch tun könnte. Diese Strategie findet höchsten Ausdruck in seinem folgenden Film, LES MANS BUIDES (Where is Madame Catherine?, 2003), in dem der ursprüngliche Ansatz des Regisseurs (eine Verwicklungskomödie à la Vaudeville) an der intensiven Präsenz der Landschaft scheitert. Die Spannung zwischen der ausgelassenen, dynamischen Erzählung und der nüchternen, lakonischen Szenerie verlagert diese sonderbare Annäherung an THE TROUBLE WITH HARRY (1955) von Hitchcock hin zu einem Chaos an der Grenze (zwischen Spanien und Frankreich), das sich linguistisch ebenso äußert wie in verschiedenen Lebensmodellen, die in einer realen geografischen Enklave aufeinander treffen. Ein Chaos, das die Fundamente der Fiktion erschüttert, den Schauspielern großen Freiraum gibt und die Präsenz des Zufalls in der Erzählung anzieht.

An der vorläufig letzten Station seiner Reise findet sich Rechas filmisches Meisterwerk, in dem sich die in seinen vorangegangenen Arbeiten bereits erkundeten kreativen Pfade treffen. In DIES D‘AGOST (August Days, 2006) zeigt sich der Einfluss der „autobiografischen Fiktion“ aus der Literatur von Josep Pla, dem bedeutendsten Prosaiker der zeitgenössischen katalanischen Literatur, einer Untergattung, der sich im Film bereits Joaquim Jordá, einer der wichtigsten Mentoren Rechas, intensiv widmete. Diese Geschichte, eine Reise durch die weiten Landschaften Kataloniens entlang des Flusses Ebro, verbindet die Liebe zweier Brüder (in Person von Marc und seinem Zwillingsbruder David Recha) in Reminiszenz an das Leben des verstorbenen anarchistischen Journalisten Ramón Barnils mit der historischen Erinnerung an die libertären, republikanischen Werte, die durch den Ausbruch des Bürgerkriegs zunichte gemacht wurden. Gleichzeitig wird über die physische Leere, die nach dem Tod bleibt, reflektiert, eine Abwesenheit, die Recha über mystische Bilder der natürlichen Welt projiziert. Im Verlauf des Weges nimmt ein Gattungsgemenge Form an, in dem Roadmovie, filmischer Essay, Fantasy (über faszinierende Klangstrukturen), Abenteuerfilm, Western (mit seinen dunklen Antihelden nahe an der Ideenwelt eines Sam Peckinpah) und cinematografische Fabel nebeneinander existieren, verbunden durch eine Off-Stimme und einem sporadisch symphonischen Schnitt, der auf das Kino  von Terrence Malick verweist. DIES D‘AGOST ist auch ein Film über seinen eigenen Schaffensprozess, darüber wie ein gewisses Stadium der Frustration (die Unfähigkeit Rechas, sich von den Geistern Barnils zu befreien) in filmischer Form Gestalt annehmen kann. 

Als aktiver Bestandteil in der Diskussion um die Grenzen des zeitgenössischen Kinos muss das Werk Marc Rechas in seiner Gesamtheit als rastlose Suche nach einer Möglichkeit der filmischen Verarbeitung, die eine politische (libertäre) und moralische (humanistische) Sichtweise der Welt ebenso umfasst wie eine evolutive und stetigem Wandel unterworfene Filmkunst, verstanden werden.

Aus dem Spanischen übersetzt von Bianca Rendl.