Tribute 2006: Susanna Helke & Virpi Suutari


Biographie
 

Susanna Helke

Geboren 1967 in Tampere (Finnland). Studierte Journalismus und Kommunikationswissenschaften an der Universität Tampere. Studien in Fotografie und Neue Medien an der Universität für Kunst und Design, Helsinki, und der San Francisco State University. Ihre Doktorarbeit trägt den Titel „Das Erbe Nanooks – Schnittpunkte von Dokumentarischem und Fiktionalem in Stil und Arbeitsstrategien“. Von 1991 bis 1994 war Susanna Helke als Fotografin an mehreren Gruppenausstellungen beteiligt. Sie gestaltete dokumentarische Radiosendungen, drehte Kurzfilme für das finnische Fernsehen und war als freischaffende Fotografin für diverse Magazine tätig. Sie lebt und arbeitet als Filmemacherin und Dozentin in Helsinki und ist Mitglied der Europäischen Filmakademie.

Virpi Suutari

Geboren 1967 in Rovaniemi (Finnland). Studierte Journalismus und Kommunikationswissenschaften an der Universität Tampere und schloss 1996 ihr Studium der Fotografie an der Universität für Kunst und Design in Helsinki ab. Seit 1989 war sie als Journalistin für mehrere Zeitungen und Magazine tätig, unter anderem für die Sonntagsund Monatsbeilagen der größten finnischen Zeitung „Helsingin Sanomat“ und der Kulturzeitschrift „Image“. Mehrere Kurzfilme für das finnische Fernsehen und Fotoausstellungen. Virpi Suutari lebt und arbeitet als Filmemacherin und Journalistin in Helsinki, ist verheiratet und hat drei Kinder. Sie ist Mitglied der Europäischen Filmakademie. 

 

Filmography Susanna Helke and Virpi Suutari

PITKIN TIETÄ PIENI LAPSI (Along the Road Little Child, 2005);  JOUTILAAT (The Idle Ones, 2001), Documentary about unemployed young men in northern Finland; SAIPPUAKAUPPIAAN SUNNUNTAI (Soapdealer‘s Sunday, 1998), A documentary about getting lost in time; VALKOINEN TAIVAS (White Sky, 1998) A documentary about coping with destruction; SYNTI — DOKUMENTTI JOKAPÄIVÄISISTÄ RIKOKSISTA (Sin - A Documentary of Daily Offences, 1996) A documentary based on the seven deadly sins; JOSKUS JOPA HÄVYTÖN (Insolence, 1994) A documentary about everyday female aggression;  ELÄIMEN KÄSI (Animal‘s hand, 1994) A video essay about relationships in nature, the natural and the unnatural. A playful approach to nature clichés; RAKASTAJA (Lover, 1994) A documentary about love between two old people 


 

Essay

Nature Mort, und auch die Städte verenden

von Olaf Möller

Es kommt nicht oft vor, dass ein Regie-Gespann weder familiär noch intim miteinander verbandelt ist: dass sich also zwei Menschen zusammengetan haben, um gemeinsam Filme zu erarbeiten, zu schaffen. Die finnischen Dokumentarfilmemacherinnen Susanna Helke und Virpi Suutari gehören zu diesen Seltenen: Sie sind keine Geschwister, sie sind kein Paar, sie sind noch nicht einmal notwendiger Weise auf dem selben Kontinent zu finden, und doch realisieren sie nun schon seit den frühen 90er Jahren vierhändig Dokumentationen, zeichnen stets gemeinsam für Buch und Regie (und manchmal Montage); weiteren Credits lassen sich keine Arbeitsteilungen bzw. individuelle Spezialisierungen entnehmen. Gemeinsam ist ihnen, erst einmal, nur das Geburtsjahr (1967) sowie der höhere Ausbildungswerdegang: Beide haben sie in Helsiniki Kunst und Design sowie in Lahti Journalismus und Kommunikationswissenschaft studiert.

Einen internationalen Durchbruch – in entsprechenden Zirkeln waren sie vorher schon durchaus bekannt – schafften Helke und Suutari mit einem ihrer inszenatorisch untypischsten Werke, THE IDLE ONES (JOUTILAAT, 2001), einer abendfüllenden Beobachtung dreier Spätjugendlicher in einer nordfinnischen Kleinstadt, von denen keiner so recht weiß, wohin und wieso überhaupt: Keiner, scheint‘s, hat irgendeine besondere Begabung, eigene Interessen sind auch nicht groß vorhanden. Was ihnen also allen bevorsteht, ist ein Dasein in stiller Funktionalität und relativer sozialer Abgesichertheit, das dann eines Tages einfach endet - angesichts solcher Perspektiven kann man schon verstehen, warum da keiner so recht Lust hat, erwachsen zu werden, lieber die Tage verstreichen lässt und hofft, dass auch morgen nicht der Rest des Lebens beginnt. Veranschaulicht wird die prägende finnische Lebenshaltung, wie sich die Normalität darstellt, innerhalb bestimmter ästhetischer Parameter: distanziert, flächig, konkret verfügt. Ein Spiegel, der offenbart, warum Finnland so eine hohe Freitod- wie Mordrate hat: Soviel Kontrolle dämmt Urbrodelndes ein, Bedürfnisse, deren Befriedigung einen Egoismus braucht, den sich die finnische Gesellschaft verweigert. 

Das Ganze auf den Punkt gebracht, dabei um einiges ironischer, wenn man entsprechend gesonnen hinschaut, ist SOAPDEALER‘S SUNDAY (SAIPPUAKAUPPIAAN SUNNUNTAI, 1998): Szenen aus dem Leben einer Familie ohne festes Einkommen. Vater Kari ist arbeitslos und versucht sich als Seifen- und Vitamine-Vertreter, da er aber nicht sonderlich interessant aussieht und auch nicht wirklich überzeugend seinen säkularen Sermon ablassen kann, wirken seine Auftritte immer ein wenig bedrückend; Mutter Pirjo erwartet inzwischen ihr viertes Kind. Ihre Wohnung ist licht und überschaubar – jedes Bild klar gebaut, gesetzt –, und gemahnt ein wenig an ein Aquarium. So hat man sich immer schon die Wohlfahrtsstaatshölle vorgestellt, und wäre doch oft froh, darin zu leben. SOAPDEALER‘S SUNDAY ist eine Art Sozialstillleben: Zeit verrieselt, Helke und Suutari filmen die Wohnung samt ihren Menschen oft so, dass in den Distanzen dieses Verfließen gegenwärtig wird. In den Gesichtern der Eltern: Sorge und Mühe und ein Wille zur Hoffnung – in den Gesten der Kinder ein anderes Leben, oder wenigstens die Möglichkeit dazu, doch das Dasein der Eltern mit seinen Rabattmarkenwerten dräut und hat sogar eine gewisse melancholische Anziehungskraft.

Kinder als Zerrspiegel der „größeren Welt“ sind auch das Herz der jüngsten Arbeit von Helke und Suutari: ALONG THE ROAD LITTLE CHILD (PITKIN TIETÄ PIENI LAPSI, 2005). Anders als bei THE IDLE ONES birgt die Ausgangssituation hier sowohl Möglichkeiten als auch Konflikte: das Miteinander von finnischen und somalischen Kinder, die gemeinsam ein Haus im Wäldchen neben der Wohnanlage bauen (wenn man will, kann man darin ein nettes Bild für die Arbeit der beiden Filmemacherinnen sehen). Das miteinander Spielen/Arbeiten fängt dabei vieles auf, selbst verschrobene Sticheleien religiösen Gehalts (der Film wird mit dem schönen Zitat „Hier kannst du Schweinefleisch essen. Es ist so dunkel, dass Allah nichts sieht“ beworben). Utopisch ist das alles deswegen nicht, nur vernünftig, was manchmal sinnstiftender ist. ALONG THE ROAD LITTLE CHILD besitzt eine gewisse Quirligkeit, geschmeidige Gelenkigkeit und ist, in gewisser Hinsicht, die bislang brüchigste Arbeit der beiden: Eine fahrige Lust am Überraschtwerden – die Kamera hat immer wieder frohgemute Schwierigkeiten, mit den Kindern Schritt zu halten: es wackelt so, wie die Kleinen hopsen – prallt auf strenge Poetostilisierungen, Bilder von Gräsern und Farnen, Himmel, Wolken, allegorisch dichte Off-Erzählungen, die Meta-Ebenen evozieren. Ein Kernbild, wenn man so will, sind die dunkelhäutigen Kinder vor den weißen Birken: In diesem Bild steckt eigentlich alles drin … hier, und auch in dem wahnsinnigen Grün-Gelb, das den Film bestimmt.

Während in ALONG THE ROAD LITTLE CHILD alles im Werden ist, ist in WHITE SKY (VALKOINEN TAIVAS, 1998) alles schon Gewesen, nun allein am Verwesen: eine Fabrik in Nordrussland und die Folgen der Verseuchung mit Schwermetallen und Dioxiden; die Verwüstung an der Welt wie den Menschen – tote Natur, leere Häuser. Die Erinnerungen, die in ALONG THE ROAD LITTLE CHILD dem Gewusel der spielenden Kinder eine gewisse Schwere verleihen – vielleicht aber auch zeigen, was sich alles überwinden, wenn schon nicht vergessen lässt –, sind in WHITE SKY zu einer Art perverser Gegenwart geworden: Kein Bild, dessen zersetzte Leere nicht von all dem spricht, was einmal war. Es geht nicht um konkrete Erinnerungen, so wie bei den Kindern, sondern um die Realisierung, dass sich hier nichts mehr erinnern lässt, dass es keinen Raum mehr dafür gibt, nur noch das Warten auf eine ferne Zeit. Das Leben geht trotzdem weiter, es kümmert sich nicht um Katastrophen, wenn es nicht davon ausgelöscht wird. Das Leben ist störrisch und bockig, es inszeniert sich wider die Maßgaben der Gesellschaft. Es macht weiter.

Wenn THE IDLE ONES ein Extrempunkt im Schaffen von Helke und Suutari ist, dann ist der relativ frühe SIN – A DOCUMENTARY ON DAILY OFFENCES (SYNTI – DOKUMENTTI JOKAPÄIVÄISISTÄ RIKOKSISTA, 1996) der andere: Eine Art experimentelle Essayoper ohne Gesang. Die sieben Todsünden strukturieren die mitunter monumentalen tableaux vivants – mal Guckkästen, mal weit ausgreifende Fahrten und Kranschwenks – voller Menschen, die manchmal etwas erzählen und manchmal nur da sind und einen anstarren. Private wie berufliche Anekdoten prallen dabei auf allegorisch gesetzte Texttafeln sowie On- auf Off-Klänge. Und über all dem liegt eine gewaltig klingende Musik – etwas, woran Helke und Suutari offenbar viel liegt: Ihre Filme haben fast alle aufwändig wirkende Soundtracks, die immer wieder das Moment der Fiktion/Verdichtung/ Daseinsdramatisierung unterstreichen. Wie die meisten Autorenfilmer der finnischen Produktionsfirma Kinotar – allen voran Mika Taanila und Kanerva Cederström – sind auch Helke und Suutari bloß bedingt am Dogma des dokumentarisch Direkten interessiert, an dessen Drama, das letzten Endes immer eher Zustände bestätigt als hinterfragt: Es schafft Tatsachen, aber keine Visionen. Was Helke und Suutari begeistert, ist das Schaffen von Realitäten aus der Wirklichkeit heraus, das Arbeiten an der Bruchstelle zwischen dem, wie es ist, und dem, wie es sein könnte.