"Hotel E“ Über den estnischen Animationsfilmer Priit Pärn
Von Thomas Basgier
Die Überwindung des eisernen Vorhangs in Europa war nicht nur ein langwieriger politisch-historischer Prozess, sondern auch ein Ereignis, das sich visuell ankündigte. Im Westen allerdings in weniger prägnanter Form. Die schärfsten Kritiker des Sowjetsystems erwuchsen aus dem System selbst, hatten über Dekaden die inneren und äußeren Auswirkungen von dessen „Realexistenz“ erduldet, und manche von ihnen setzten irgendwann auf die Macht von Bildern, auf die Macht ihrer persönlichen Bilder - auf die subversive Kraft optischer Welten, die in vermeintlichen Nischenkünsten wie dem Animationsfilm relativ ungehindert realisiert werden konnten und die deshalb zunehmend in kaum kaschierter symbolischer Eindeutigkeit den faktischen Bankrott des Staatsdirigismus in all seiner Tristesse zu schildern wagten. Der Tscheche Jan Svankmajer zählt zu dieser Riege bildgewaltiger Regisseure, ebenso wie der Este Priit Pärn.
Mit BREAKFAST ON THE GRASS, entstanden 1987, hat Letzterer bravourös vorgeführt, wie mit den Instrumentarien der Animation ein vernichtendes Urteil über ein Gesellschaftsmodell gefällt werden kann und zwar ohne dem Herrschaftsapparat Gelegenheit zu geben, die internationale Verbreitung dieser Aburteilung zu blockieren. BREAKFAST ON THE GRASS darf man getrost als ein Schlüsselwerk des politischen Kinos der achtziger Jahre bezeichnen. 1992 folgt ein weiteres Meisterstück: In HOTEL E (von dem wir den Gesamttitel der Werkschau entlehnt haben) befasst sich Pärn bereits mit dem direkten Aufeinanderprall eines pseudo-florierenden und eines absterbenden Systems, besser gesagt: mit dem Verschlungen-Werden des kollabierten „Sozialismus“ durch den westlichen Kapitalismus. Kurz darauf konzipiert Pärn eine Performance, deren Motto optimistischer klingt, als das Projekt gemeint war, und die sich direkt auf HOTEL E bezog: The Death of Dark Animation in Europe. Priit Pärn wurde 1946 in Tallin geboren, studierte in der zweiten Hälfte der Sechziger zunächst Biologie und arbeitete dann sechs Jahre im Botanischen Garten seiner Heimatstadt. Verhältnismäßig spät, erst von 1976 an, engagiert er sich im Filmbereich, war jedoch zuvor schon über einen längeren Zeitraum als Karikaturist und Illustrator tätig.
Heute gilt er nicht allein als Regisseur, vielmehr auch als Grafiker von Rang. In beiden Metiers hat der Este eine Formensprache entwikkelt, die jeden Betrachter ein Pärn-Werk sofort als solches erkennen lässt. Der schmale Korpus der von ihm favorisierten grafischen Zeichen kann am besten als Synthese aus Reduktion, Surrealismus und gebrochener Folklore charakterisiert werden: Minimalistisch hingeworfene Physiognomien, ausgestattet mit toten Augen, leeren Augen, bebrillten Augen, buschigen Augenbrauen, Schnauzbärten manchmal, fehlenden Nasen ab und an, bevölkern die Leinwand. Und baumelt unter den kargen Gesichtern ein Körper, dann ist dieser uniformiert: mit einem Anzug, einem Mantel, wobei Krawatten, Hüte, Schuhe, Aktentaschen, Gepäck überhaupt und Koffer im besonderen einen Teil der Uniform bilden. Hineinplatziert werden die pärnschen Figuren in Räume und Architekturen, deren Fenster etwa genauso tot erscheinen wie die Augen vieler Protagonisten und die ansonsten geprägt sind von einer beunruhigenden Leere - der Bestand an Utensilien, die es braucht, um eine visuelle Aussage pointiert zu formulieren, eine Bildkomposition zu vervollkommnen, ist folglich spärlich: ein laufender Fernseher, eine herumliegende Zeitung, ein Gemälde an der Wand, ein Fahrrad, eine Schere, ein Bügeleisen, Zigaretten, diverse Uhren.
Dieser Minimalismus im Gegenständlichen provoziert geradezu die Verwendung von visuellen Leitmotiven (Hasen und Hasenohren zum Beispiel sind ein Dauerthema in Pärns Arbeiten) und korrespondiert gleichzeitig mit dem ebenfalls leitmotivischen Einsatz ausgewählter (Nicht-)Farben und Muster: Die Filme des Priit Pärn sind Studien über die Bandbreite der Graukolorierung, sie arbeiten mit Grobkörnigkeit, mit augenfälligen Punktierungen und Streifenmotiven und sie sind nicht zuletzt: verstörende Schlechtwetterfilme.
Faszinierend an jenem Stil ist auch die Tatsache, dass er nicht mehr einem singulären Künstler zuzuschreiben ist. Pärn hat mit seiner Ästhetik eine Art Zeichensprache definiert, die sich zahlreiche jüngere Regisseure, Animatoren und Grafiker speziell in Estland längst einverleibt haben (aber auch anderswo: der Einfluss reicht inzwischen - verkörpert etwa durch den begnadeten Szenaristen Igor Kovaliov - bis nach Hollywood). Tatsächlich drückt sich in Pärns Stilistik und in der Art, wie diese aufgesogen wurde, der endlos unterjochte Wunsch eines kleinen Volkes nach nationaler Eigenständigkeit aus, ein sturköpfiges Beharren auf kultureller Identität.
Um dies zu verdeutlichen, wurde die Programmreihe „Hotel E“ nicht einfach als herkömmliche Retrospektive angelegt. Priit Pärn wird vielmehr eingebettet in einen Kontext von relevanten Animationsfilmen weitgehend politischen Inhalts aus dem Zeitraum 1986 bis 1994. In dieser Gegenüberstellung tritt Pärns weitreichender Einfluss noch klarer hervor. Jedenfalls zeigt sie eins: Animation als Kinderkram abzuqualifizieren, ist bereits der Kinderkram. So genannte „Trickfilme“ taugen allemal zur Gesellschaftskritik. Mehr noch: Sie vermögen unsere Herzen zu bewegen und unseren Verstand zu aktivieren.