Spotlight 2017: Yeşim Ustaoğlu

 

Heimat und Identitat

Von Daniela Sannwald (Filmpublizistin und Kuratorin, DE)

Yeşim Ustaoğlus Filme sind Heimatfilme im umgekehrten Sinn: Sie zeigen Menschen auf der Suche nach einem Ort, an dem sie sich aufgehoben fühlen, ohne dass sie eine genaue Vorstellung davon haben, wie es dort aussehen müsste. Ihre Figuren sind Migrantinnen und Migranten – wie die zwei jungen landflüchtigen Männer in Güneşe Yolculuk oder die heimatvertriebene Griechin in Bulutlari Beklerken, wie die alte Dorfbewohnerin, die in Pandora’nın Kutusu von ihren Kindern nach Istanbul geholt wird oder die beiden jugendlichen Angestellten einer Autobahnraststätte in Araf und schließlich wie die noch nicht volljährige Elmas in Tereddüt, die ihr Elternhaus verlassen muss, um eine Ehe mit einem wesentlich älteren Mann einzugehen. Was Heimat ausmacht, wie es da aussieht, riecht und schmeckt, wie die Menschen dort miteinander sprechen und was ihre Kultur geprägt hat, das thematisiert Yeşim Ustaoğlu in all ihren Filmen. Die 1960 geborene, bekannteste türkische Regisseurinschreibt und inszeniert seit 1994 vor allem Filme über Frauen auf der Suche nach Identität, die, wie sie selbst sagt, immer auch Geschichten über Männer sind. Ihre Filme waren von Anfang an international erfolgreich, gewannen Preise auf Festivals und wurden von der Kritik gelobt. Das liegt nicht nur daran, dass Ustaoğlus Inszenierungen sorgfältig und wahrhaftig sind, sondern auch daran, dass sich die Regisseurin mit heiklen Themen beschäftigt hat: dem türkischkurdischen Verhältnis, der Vertreibung der Griechen aus der Türkei, Zwangsheiraten, weiblicher Sexualität. Ihre Filme sind Schlechtwetterdramen, in denen es regnet, stürmt und schneit, selbst drinnen finden ihre verlorenen Figuren häufig keine Geborgenheit. Ustaoğlu arbeitet mit dem Wetter, als ob es Teil ihrer eigenen Inszenierung wäre. Ihre idealen Drehbedingungen findet sie etwa am Schwarzen Meer: Dort, wo die alte Frau Nusret ins Gebirge schaut, während sie ihre eben geernteten Früchte zum Trocken auf dem Balkon auslegt, wo die Schwestern Selma und Ayşe friedlich wohnen und wirtschaften, bis der Tod der einen die Vergangenheit der anderen ans Tageslicht bringt, oder wo die Psychotherapeutin Şehnaz jeden Morgen vor die Tür tritt, um die grauen Wellen ans Ufer schlagen zu sehen, bevor sie zur Arbeit in die Stadt fährt. Mitunter dreht Ustaoğlu im Niemandsland, irgendwo an der Autobahn im riesigen Anatolien, wo es auch bei gutem Wetter nicht schöner ist als bei schlechtem. Der ewig graue Himmel visualisiert die Gemütszustände ihrer Protagonistinnen und Protagonisten. Aber manchmal zeigt sich am Ende ein Sonnenstrahl.

YEŞIM USTAOĞLU, born in 1960, is an award-winning director from Çaykara, Turkey. She directed several shorts before making her feature film debut with The Trace in 1994. She received international recognition for her 1999 film Journey to the Sun, winning several international awards. // Films (selection): İz (The Trace, 1994), Güneşe Yolculuk (Journey to the Sun, 1999), Bulutlari Beklerken (Waiting for the Clouds, 2004), Pandora’nin Kutusu (Pandora’s Box, 2008; CE’09), Araf (Araf – Somewhere in Between, 2012; CE’13), Tereddüt (Clair Obscur, 2016)