Nachtsicht 2020

Im Geisterhaus Europa

(Markus Keuschnigg, Kurator)

Wie in den vielen Jahren zuvor serviert auch die Nachtsicht 2020 keine Handlungsanweisungen, empfiehlt keine Weltverbesserungsmaßnahmen, pocht nicht auf Moral und Anstand, hofft nicht darauf, dass sich nach Sichtung der heurigen, fünf Filme umfassenden Selektion irgendeine Epiphanie beim Publikum einstellt. Stattdessen sollen und müssen notgedrungen subjektive, weil immer auch persönliche Welt- und Wertehaltungen der einzelnen Werke aufeinander treffen, sich aneinander reiben bis die Funken fliegen, deren Leuchten, so kurz es auch sein mag, jene Finsternis erhellt, durch die wir alle in präapokalyptischer Angespanntheit und diffuser Wut kriechen.

Über allem schwebt, in allem schwelt das Angstgespinst des Fremden, eine Grundkonstante des Genrekinos, die in diversen Ausformungen immer wiederkehrt. Das Monströse ist dabei lediglich grellste und eindeutigste Gestalt: In der belgischen Splatter-Komödie Yummy werden Schönheits- OP-Tourist*innen in einem osteuropäischen Krankenhaus Zeugen einer Virus-Epidemie, die Infizierte zu fleischfressenden Ungeheuern macht. Wenn die Außenfassaden bröckeln, müssen innere Werte aktualisiert und aktiviert werden, um eine Überlebenschance zu haben. Im Zentrum der heurigen Nachtsicht-Selektion stehen drei Arbeiten, die sich zuweilen radikal, zuweilen klassisch mit dem immer gleich bleibenden Angst-Reservoir auseinandersetzen.

Katrin Gebbes Eröffnungsfilm Pelikanblut kreist um religiöse Themen wie Schuld, Selbstaufopferung und Nächstenliebe, alle in extremo durchexerziert an einer unabhängigen, alleinerziehenden Pferderanch- Besitzerin, die ein fünfjähriges bulgarisches Mädchen adoptiert und es auch dann noch mit Mutterliebe vom Elendsschicksal zu erlösen versucht, wenn es dafür eigentlich schon zu spät ist. Unsicher gewordene oder in Hanglage geratene, dringend absturzgefährdete Lebens- und Gefühlswelten werden auch in Rose Glass’ sinistrem Langfilmdebüt Saint Maud mit aufkeimender, bald übersteuerter Spiritualität therapiert. Eine in sich gekehrte Pflegerin kümmert sich um eine todkranke Tänzerin, deren zunehmend verzweifelten hedonistischen Schübe sich an ihrer wirklichkeitsentrückten, fanatischen Religiosität spießen. Als radikaler Gegenentwurf zu diesen verdammten Begegnungen mit dem Fremden wird im italienischen Neo-Gothic-Thriller Il nido alles Unbekannte gleich vorsorglich ausgesperrt. Ein querschnittgelähmter Bub hockt dabei figurativ und tatsächlich im Goldenen Käfig in Form eines ausladenden großbürgerlichen Anwesens, das er laut seiner Mutter aus Sicherheitsgründen nicht verlassen darf. Doch umfassen die Mauern ein Geheimnis, das nach und nach offen gelegt wird, bis eine Welt hinter der Welt hervor scheint.

Die Nachtsicht 2020 erzählt vom Geisterhaus Europa, durch das die alten Gespenster in neuer Aufmachung schweben, sich an unseren Unsicherheiten und Ängsten laben, bis sie sich durch Courage und Solidarität unter den (Noch-)Lebenden in Luft auflösen. Oder auch nicht. Wie immer gilt: Nur wer die Nacht kennt, weiß den Tag zu schätzen. Insofern umarmen wir die Finsternis, feiern die Konfrontation, verehren die Zumutung, bis die Funken fliegen und sie unsere verwüsteten Seelen etwas aufhellen. Man nennt das auch Hoffnung.

 

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