Architektur und Gesellschaft 2015

„Gimme Shelter!“ – Recht auf Wohnen: Zur Lage europäischer Wohnverhältnisse

(Lotte Schreiber, Kuratorin)

Am Beginn des Wohnens steht die „Urhütte“, ein aus Ästen und Laub gefertigtes Dach – die älteste nachweisbare von Menschenhand errichtete, auf etwa 400.000 vor Christus datierte Unterkunft. Als Refugium und erste Architektur zugleich steht sie für das urmenschliche Bedürfnis nach Schutz und individuellem gestalterischen Ausdruck. Schon der deutsche Philosoph Martin Heidegger verstand das Wohnen als die Seinsweise des Menschen schlechthin.

Wohnen zählt wie Nahrung und Kleidung zu den unverzichtbaren Grundbedürfnissen. Im Sommer 1919 formulierte die Weimarer Verfassung in Art. 155 erstmals das staatliche Ziel, „jedem Deutschen eine gesunde Wohnung“ zu sichern. In Art. 25 (1) der UN-Charta der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 wurde der Anspruch auf angemessenen Wohnraum ebenso verankert wie in der Europäischen Sozialcharta von 1961. Demnach sind staatliche Stellen verpflichtet, die Verfügbarkeit angemessenen Wohnraums im Rahmen ihrer Möglichkeiten sicherzustellen.

Eine Erhebung der britischen Tageszeitung The Guardian aus dem Jahr 2014 zeigt allerdings, dass in Europa rund elf Millionen Wohnungen – allein in Spanien sind es 3,4 Millionen – bei geschätzten 4,1 Millionen Obdachlosen leer stehen. Die anhaltende Wirtschaftskrise macht Wohnraum weiterhin zu einem beliebten Spekulationsund Anlageobjekt. Immer häufiger setzen sich daher Bürgerinitiativen für eine Umsetzung des Rechts auf Wohnen ein und konnten vereinzelt durchaus erfolgreich etwa den Verkauf städtischer Wohnbauten an private Investoren verhindern.

Vor diesem Hintergrund versammelt die diesjährige Programmschiene „Architektur und Gesellschaft“ unter dem Titel „Gimme Shelter!“ – Recht auf Wohnen vier Dokumentarfilme und einen Kurzfilm. Der mehrfach preisgekrönte Schweizer Fernand Melgar wirft in seinem aktuellen Dokumentarfilm L’Abri einen schonungslosen Blick auf die Wohnungslosen in seiner Heimat. Aufgrund der begrenzten Bettenzahl spielen sich vor einer Notschlafstelle in Lausanne in den Wintermonaten allabendlich dramatische Szenen ab. In A quién conmigo va begleitet die junge spanische Filmemacherin Amparo Mejías delogierte Frauen, die als Opfer der Wirtschaftskrise mit ihren Familien einen leer stehenden Wohnbau besetzen und täglich um ihr Recht auf angemessenen Wohnraum kämpfen müssen. Für die Erhaltung ihres Wohnblocks, der einem Investor im Wege steht, kämpfen auch die Bewohnerinnen und Bewohner der Hamburger ESSO-Häuser in der Langzeitdokumentation Buy buy St. Pauli von Irene Bude, Steffen Jörg und Olaf Sobczak. Skizzenhaft zeichnet der Kurzfilm Superjednostka der polnischen Filmemacherin Teresa Czepiec das Leben in einer gigantischen Wohnmaschine nach, während im Zentrum von Heidrun Holzfeinds Forms in Relation to Life die bekannte Wiener Werkbundsiedlung steht. Die österreichische Filmregisseurin untersucht darin die Beziehung der Bewohnerinnen und Bewohner zu dieser denkmalgeschützten Ikone der architektonischen Moderne.

 

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