Arbeitswelten 2008

Die Macht des Schicksals

(Michael Loebenstein, Dominik Kamalzadeh, Dieter Pichler – Kuratoren)

Es ist kein Zufall, sondern ganz programmatisch, dass heuer im mittlerweile fünften „Arbeitswelten“-Programm gleich zwei Spielfilme vertreten sind. Zugespitzt könnte man sagen: Arbeit ist nicht nur „unsichtbar“, „ungreifbar“, abstrakt geworden – Prämissen und Behauptungen, denen wir in den vergangenen Jahren mittels dokumentarischer Filme nachgegangen sind. Vielmehr scheint es, als sei die (physische) Arbeit, ihr Stellenwert als identitätsstiftendes Moment, als gesellschaftsformende Kraft, vom Register der Gegenwart ins Feld des Mythos gewandert. Von der Aufzeichnungsfunktion des Dokumentarfilms zur Erzählung des Spielfilms findet eine Verschiebung statt. Die Tragödie erhöht das „nackte Leben“ zur schicksalshaften Erzählung, verwandelt Individuelles in Allgemeines, Zufälliges, Marginales in Beispielhaftes, Ereignis in Geschichte(n): So lebt der Mensch.

Es ist bezeichnend für den Film als gesellschaftlich engagierte Kunst, dass er sich den Rändern der Gesellschaft, den marginalisierten Lebensweisen widmet, um doch von den herrschenden Verhältnissen zu sprechen. Der Geschichtsphilosoph Jacques Rancière hat diese herrschenden Verhältnisse als die Idee von der „Macht des gemeinsamen Schicksals“ bezeichnet: „Die Idee einer auf eine bestimmte Vollendung gerichteten Zeit, einer Zeit, die denjenigen ein Versprechen macht, die sich an ihre Abfolge und die damit verbundenen Aufgaben halten; und umgekehrt jenen zur Bedrohung wird, die die gestellten Bedingungen missachten und die damit verknüpften Aufgaben vernachlässigen oder ihre Wirkungen vorwegnehmen wollen.“

Arbeitswelten #5: Die Macht des Schicksals präsentiert zeitgenössische Beispiele - sowie eine „Rückblende“ in die 1990er Jahre – für gemeinhin „unsichtbare“ Lebensentwürfe, die zwischen schicksalshafter Entfaltung und Widerstand oszillieren. Über die Protagonisten von Nick Broomfields Ghosts liest man beispielsweise sonst nur im Chronikteil der Zeitungen: „21 illegale chinesische Arbeiter bei Unglück ertrunken“. Was Broomfield tut, ist aus der Meldung, einer Statistik, einer abstrakten Größe ein Leben zu machen; er wählt – ungewöhnlich für einen Filmemacher, der als „Erfinder“ des Aufdeckerdokumentarfilms beispielsweise Michael Moore beeinflusst hat – die Form des Fernsehdramas. Ghosts, produziert vom britischen Channel 4, beginnt mit dem Unglück: Eine Gruppe chinesischer TagelöhnerInnen wird beim heimlichen, nächtlichen Muschelsammeln an der englischen Küste von der Flut eingeschlossen; ein Handytelefonat führt uns zurück in die Vergangenheit, in der sich die Geschichte der Hauptfigur, Ai Qin als Tragödie entrollt. Als unfreiwillige Nomadin auf der Suche nach einer Existenzgrundlage reist sie illegal in die EU ein, um als Arbeitssklavin ihrer Schlepperorganisation in der britischen Lebensmittelindustrie zu schuften. So wie der Film am Ende zirkelhaft zum Anfang zurückkehrt (und uns dann doch mit einer entscheidenden Wendung zu überraschen vermag!), so determiniert ist auch die Rolle aller Akteure des Dramas: Die Schattenökonomie der modernen Sklavenarbeit (die unseren europäischen Lebensstandard zu finanzieren hilft) kennt keinen Aufstieg und endet im allegorischen Bild der Flut, die naturgewalthaft und gleichgültig kommt, um selbst den Mittelsmann und Komplizen der Verschleppung zu verschlingen. Zwischen Doku- Drama, Spielfilm und Videorealismus angesiedelt, beeindruckt Broomfields Film durch seine unverblümte Stellungnahme und durch die ständige Infragestellung von Kategorien: Die Hauptrollen sind durchwegs mit Laien, ehemaligen illegalen MigrantInnen besetzt, und Ähnlichkeiten mit realen Ereignissen – in diesem Fall das notorische „Morecambe Bay Disaster“ – beabsichtigt.

Ähnlich allegorisch und zugleich dem Naturalismus verpflichtet ist Karger, ein Spielfilm der deutschen Regisseurin Elke Hauck. Seine Hauptfigur, Karger (Vorname tut nichts zur Sache), ist Arbeiter im Stahlwerk in Sachsen. Das Werk wird gerade „restrukturiert“, genau wie sein Familienleben – die Scheidung von seiner Frau Sabine wird gleich zu Beginn vollzogen, dennoch geht er, der später die Arbeit verliert, in der gemeinsamen Wohnung ein und aus. Was wie der Stoff eines Melodrams klingt, wird in Haucks unaufdringlicher Regie und im Spiel ihrer LaiendarstellerInnen (allesamt aus der Region) zu einer Ballade aus Blicken, Eindrücken, zur Erzählung einer Lebenshaltung, die mit dem Strom der Ereignisse schwimmt und sich dennoch fast störrisch zur herrschenden Ideologie der konstanten Neuerfindung verhält. Karger ist eine Fläche, eine Leinwand, an der die Erwartungen und Projektionen der Gegenwart abprallen und reflektiert werden. Ist er, wie es im musikalischen David-Bowie-Zitat eingangs heißt, ein „Hero“, Sand im Getriebe oder ein Spielball des Schicksals? Der Film lässt das offen.

Zum zweiten Mal haben wir heuer bei Crossing Europe die Gelegenheit, Arbeiten des deutschen Filmemachers Thomas Heise zu präsentieren. Heises Filme zertrümmern Kategorien und vorgefasste Ansichten; sie nehmen Haltung ein für Lebensentwürfe in einem post-kommunistischen (und post-industriellen) Ostdeutschland und wagen es, politisches Engagement, filmische Geschichtsschreibung mit kompromissloser, ästhetischer Komplexität zu verbinden. STAU – jetzt geht’s los (1992) ist einer der Meilensteine des deutschen Dokumentarfilms; dass ein Film kurz nach der Wiedervereinigung sechs Jugendlichen, die rechte Parolen im Mund führen, zusah und zuhörte, statt sie reflexartig zu „verurteilen“, wurde mancherorts als Skandal empfunden. Im Rückblick ist STAU nicht nur Monument für politische Randzonen, sondern auch von Arbeits- und Lebenswelten, die sich bar funktionierender, verordneter Entwürfe zugleich komplizenhaft und chaotisch-widerständig zum „neuen Deutschland“ verhalten.

In Kinder. Wie die Zeit vergeht, seinem jüngsten Film, kehrt Heise nach STAU und Neustadt (Stau – der Stand der Dinge) (1999/2000) zum dritten Mal nach Sachsen-Anhalt zurück. Der Blick auf die Menschen ist nüchtern und fragend geblieben. Was aus früheren Vorstellungen und Vorhaben geworden ist, protokolliert die Kamera; wie sich zum Beispiel die Kinder in Rollen verfestigen, die sie nur aus einer diffusen Rebellion gegen den Status quo einmal ausprobiert haben. Heise dreht in Schwarzweiß, was dem Film eine kalte Schönheit gibt, an der jede falsche Empathie abprallt. Die Figuren sind in ihrem Umfeld aufgehoben, die herrschenden Verhältnisse haben sie im Griff, es wird viel geschwiegen. Jeannette, die Heldin aus Neustadt, hat sich einen Traum wahr gemacht und ist Busfahrerin geworden. Für die Dauer einer langen Szene ist der Film mit ihr unterwegs, nimmt teil an dieser neuen Wirklichkeit. Kinder. Wie die Zeit vergeht ist aus lauter solchen Realitätsausschnitten zusammengesetzt, zwischen denen Lücken bleiben. Lücken, die zum Denken anregen. Kontinuität ist ohnehin eine Illusion.

 

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